Deutsch-Projekte

Wir lassen uns verarzten

Von einer Ärztin, die ursprünglich ein Arzt ist. Aber das ist noch lange nicht alles. Wir steigen in die Tiefen der Komplexität von Identität ein, und was sie heute bedeutet. Ein eigentlich schwarzer Priester, gespielt von einem Weißen, ein männlicher Arzt, verkörpert von einer Schauspielerin sollen uns daran hindern, der Optik mehr Wert zu zollen als dem Wort, denn nur das, was die Figur sagt, lässt uns ihre wahre Identität erkennen.

Bekannt für seine radikalen Adaptionen von Klassikern hat der englische Regisseur und Dramatiker Robert Icke sich in seinem Werk „Die Ärztin“ dem Stoff von Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“ angenommen und versetzt ihn „sehr frei“ in unsere Welt.  Es geht nicht nur mehr um Wissenschaft versus Religion und katholisch gegen jüdisch, die Konflikte sind vielschichtiger geworden als zu Schnitzlers Zeit: Geschlecht, Religion, Hautfarbe geht inzwischen über die traditionelle zweidimensionale Einordnung wie z.B. in männlich und weiblich weit hinaus.

Fasziniert und schockiert beobachten wir, wie die klare Entscheidung einer renommierten, selbstbewussten Ärztin, die das Beste für ihre Patientin will, in unserer multimedialen Welt ausgeschlachtet wird, wie Vertreter jeder auch nur möglichen Gruppierung versuchen, ihre eigene Agenda dazu ins Rampenlicht zu rücken und die Tatsachen dabei so lange verdrehen und verschieben, bis die letzten Unterstützer der Hauptfigur sich schließlich dem Druck der Öffentlichkeit beugen und sich von ihr abwenden. Die Spirale ihres Absturzes dreht sich so schnell wie die Drehbühne der Diskussionsrunde in der fiktiven TV-Sendung „Der Ring“, dem Höhepunkt der Inszenierung, auf der die Ärztin Rede und Antwort stehen muss. Dabei vermeidet Icke geschickt, die Ärztin als rein sympathisches Opfer darzustellen, mit dem wir Mitleid haben, obwohl die eine oder andere Träne bei unserem jungen Publikum geflossen ist.  Nein, auch ihre kategorische Beharrung darauf, als Ärztin keine Fehler gemacht zu haben und der Schaden, der dadurch entsteht sowie die Menschen, die dadurch verletzt werden, lassen die Frage offen, ob es nicht ratsamer gewesen wäre, Kants Ratschlag zu folgen, sich in der Öffentlichkeit der Funktion angemessen zu verhalten, aber als private Gelehrte weiterhin ihre Gedanken offen zu teilen.

Fakt ist, der Theaterbesuch unserer 10. Klassen in Ingolstadt am 27.3.2025, initiiert und organisiert von Frau Holler-Müller, begleitet von ihren Kolleginnen Prasser, Reichinger, Gastpar und Gratzer, war ein voller Erfolg und zeigt, dass gute moderne Regie das erfahrene wie das junge Publikum absolut begeistern kann.

Text: Claudia Gratzer

Fotos : © Germaine Nassal